Hinreißende Phantasien eines Archivars

Eine Abkürzung wie K. W. kann vieles bedeuten: «Keine Wiedervorlage» etwa, oder «Kein Weinen, knappe Worte, kleiner Wahn, kaum wirklich». Oder Karl Wenig. Karl Wenig ist der Erzähler in Kerstin Kempkers Roman «Das wird ein Fest», und K. W., daher seine Vorliebe für Abkürzungen, war einst tätig in einem Archiv. Archivarbeit verlangt Genauigkeit. Im Archiv lagern Sachen, denen eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird – und Zuschreibungen erlaubt sich der ehemalige Archivar kraft einer alles ansteckenden Phantasie. Von seinem Balkon aus beobachtet er die Welt und macht sich einen Reim auf das, was er sieht und hört. Er sieht, wie ein junger Mann eines Abends in Flip-Flops auftaucht und in ebendem Moment auch schon tot zu Boden fällt. Die Erzähllust von K. W. amalgamiert Erfahrungen aus dem Archiv-Alltag mit einem Zeitungsbericht über ein Dorf in Piemont. Dass dieser Bericht neben der Notiz über den Tod des jungen Mannes steht, ist reiner Zufall. Unterm Strich ist in diesem Roman alles gleichermassen wahr und erfunden – und zwar auch darum, weil es erzählt wird. Überraschenderweise hat der Ex-Archivar sehr viel sprachlichen Witz, er liebt das kleine Sprachspiel und schlägt heiteres Erzählwasser aus buchstäblich allem, was ihm eine Woche lang in den Sinn und unter die Augen kommt.

NZZ 4.12.2012, Martin Zingg


Von ihnen, die nicht mehr mitkommen, zu sprechen, heißt nicht rückständig zu sein, sondern im Gegenteil, da ihre Zahl steigt, sich auf genauer Höhe der Zeitgenossenschaft zu bewegen. Von ihnen spricht Kerstin Kempker. Das heißt, eigentlich nicht von ihnen, als wären es zu dokumentierende Fälle, sondern sie lässt sie selbst zu Worte oder vielmehr zum Gedanken kommen. Das kann für den Leser eine gewisse Herausforderung bedeuten, denn solche Leute denken gewissermaßen nicht mehr geradeaus, auf der linearen Rennstrecke der Karrieren, sondern ihr Denken krümmt sich einwärts (...) Das Leben dieses Sohns, wie es in den dreißig Jahren seither hätte laufen können, phantasiert der Erzähler nun herbei, bei aller von bürokratischen Kürzeln durchsetzten Kauzigkeit mit einer so anrührenden wie, da sie ins Irreale zielt, erschreckenden Liebe: wie es z.B. gewesen sein könnte, wenn dieser tapsige und hilflose junge Mann durch hartnäckiges Werben die mütterliche Neigung einer Beamtin in der Meldebehörde gewonnen hätte und nun als Kurier die Papiere im selben Haus herumträgt, wo sein Vater arbeitet... Das eigenwillige Buch ist voll solcher auf eine stille Weise ergreifenden Szenen.

Burkhard Müller, Verleihung des New-York-Stipendiums des Deutschen Literaturfonds im November 2014